Der Mensch, das Ich und die Sehnsucht

Die Ausstellung „Sehnsucht ich“ wird bis 16. Februar 2014 verlängert. Kurator Günther Oberhollenzer erzählt über den ehrgeizigen Versuch, sich in der zeitgenössischen Kunstausstellung mit dem Menschen und seinem Bild auseinander zu setzen.

Wir tragen eine Sehnsucht in uns, Momente der Vergänglichkeit zu entreißen, unser Äußeres, aber auch unser Sein festzuhalten, zu sagen „Ich bin hier!“ und uns im wahrsten Sinne des Wortes zu verewigen. Das kann durch ein gemaltes Bild geschehen, eine Porträtsitzung in einem Fotostudio, heute aber viel häufiger durch selbst gemachte Schnappschüsse oder Filme. Gleichzeitig verliert im schnelllebigen Zeitalter von digitalen Medien und Facebook, wenn jeder täglich mit seinem Smartphone dutzende Fotos von sich schießen kann, und viele das auch tun, das einzelne Bild an Bedeutung. Digitale Medien sind heute beinahe immer und überall verfügbar, fast jedes Detail unseres Lebens wird festgehalten und im Netz mit Freunden geteilt, sodass gerade das (fotografische) Abbild selbst wieder zum flüchtigen Moment wird, im nächsten Augenblick abgelöst durch neue Bilder. Dabei scheint die Bilderflut der multimedialen Kommunikationsgesellschaft den Blick auf uns selbst nicht zu schärfen sondern, im Gegenteil, unübersichtlicher und trüber zu machen.

Ausstellungsansicht „Sehnsucht Ich“ (c) Günther Oberhollenzer

Ausstellungsansicht „Sehnsucht Ich“

Maria Lassnig, Die Trauer (Detail), 2003, Foto: Günther Oberhollenzer

Maria Lassnig, Die Trauer (Detail), 2003

Die bildende Kunst nimmt oft für sich in Anspruch, der Vergänglichkeit zu trotzen, über den Moment hinaus bestehen und wirken zu können. Das war und ist wohl die Intention hinter jedem Porträt der Kunstgeschichte. Die Ausstellung „Sehnsucht Ich“ fasst den Blick aber weiter – nicht nur das menschliche Porträt steht im Fokus, sondern vielmehr die grundsätzliche Frage nach dem Bild des Menschen. Und sie erzählt von der uns immer wieder antreibenden Sehnsucht, sich ein solches Bild zu machen. „Menschenbild“ ist kein kunstimmanenter Begriff, sondern kommt ursprünglich aus der Philosophie. Er steht in der Anthropologie für die Vorstellung, die jemand vom Wesen des Menschen hat. Das philosophische Menschenbild reflektiert die menschlichen Eigenschaften, den Sinn des menschlichen Daseins und seinen Wert. Da der Mensch Teil der Welt ist, ist das Menschenbild immer auch Teil des Weltbildes. Der Mensch kann zu unterschiedlichen Zeiten, in verschiedenen Kulturen, aber auch innerhalb der eigenen Gesellschaft ganz unterschiedlich betrachtet werden. Man denke etwa an das humanistische und christliche Menschenbild oder, spezifischer, an ein psychologisches und soziologisches. Seit jeher ist die Kunst ein wesentliches Medium, durch das sich individuelle aber auch gesellschaftliche Bilder vom Menschsein äußern. Auch in der Gegenwartskunst sind die Darstellung des Menschen, das Abarbeiten am Menschsein oder das Thema der Figuration häufig wiederkehrende Motive, die inhaltlich und stilistisch abwechslungsreich die Vielfältigkeit des Menschenbildes widerspiegeln.

Judy Fox, Eve und Jaguar Knight, 1987 und 1990 Hintergrund: Fang Lijun, 21.12.2003, 2003, Foto: Günther Oberhollenzer

Judy Fox, Eve und Jaguar Knight, 1987 und 1990 Hintergrund: Fang Lijun, 21.12.2003, 2003

Jonathan Meese, Sehnsucht ICH, St. All – Liebe und Dr. NO, 2004, 2002 und 2006, Foto: Günther Oberhollenzer

Jonathan Meese, Sehnsucht ICH, St. All – Liebe und Dr. NO, 2004, 2002 und 2006

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Postulat „Sehnsucht Ich“ ist einer Arbeit von Jonathan Meese entlehnt. Für eine Schau, die den Menschen und sein Bild verhandelt, erschien mir „Sehnsucht Ich“ eine passende Überschrift: Die Sehnsucht, dieses unstillbare innige Verlangen nach einer Person, einem Zustand, einem alternativen Leben, wird in Beziehung gesetzt zum Ich, zur individuellen Identität, dem Sein des Menschen. Ein Titel kann natürlich eine Ausstellung niemals ganz erfassen, zu unterschiedlich, zu vielschichtig sind die einzelnen Kunstwerke und Positionen, ihre Inhalte und Herangehensweisen. „Sehnsucht Ich“ kann aber durch den offenen, in vielerlei Hinsicht deutbaren Charakter auf die Ausstellung neugierig machen. Hat nicht jeder Mensch die Sehnsucht, zu sich und seinem Ich, zu seiner Bestimmung, seinem Platz in Familie und Gesellschaft, in der Welt und im Leben zu finden, sich seines Menschseins zu vergewissern? Es stellen sich heute aber verstärkt auch Fragen nach dem Abbild unseres Ichs: Wie beeinflussen sich das öffentliche und private Ich gegenseitig, etwa wenn das private Ich öffentlich gemacht wird? In welcher Relation stehen das digitale – oder auch das künstlerische – und das reale Ich?

Die Ausstellung ermöglicht einen Blick auf Werke von über fünfzig Künstlerinnen und Künstlern, die zum Teil nicht verschiedener sein könnten und doch einig sind in ihrem Bestreben, über bildnerische Ausdrucksmittel das menschliche Sein und sich selbst zu ergründen, zu begreifen oder auch zu hinterfragen. Dabei stellen sich auch die Fragen: Vermag es ein Bild, einen Menschen in seinem Ich und seiner Welt zu erfassen? Was erzählt es uns über den Künstler, die Künstlerin? Ist nicht gerade jedes Kunstwerk auch gleichzeitig Inbegriff der menschlichen Sehnsucht, dass etwas von unserem Leben über den Tod hinaus wirken möge, unser Ich nicht in Vergessenheit gerät?

Zu sehen sind Malereien internationaler Künstlerinnen und Künstler, ergänzt durch ausgewählte skulpturale Arbeiten. Alle Werke stammen aus der Sammlung Essl. Die Sammlung birgt einen reichen Schatz an großartigen Werken zum Thema „Sehnsucht Ich“, sodass ohne Weiteres mehrere Ausstellungen damit bespielt werden könnten. Gleichzeitig muss aber konstatiert werden, dass ein so umfassendes Thema wie der Mensch und sein künstlerisches Bild immer nur zart angerissen werden kann. Aus diesem Blickwinkel betrachtet kann eine Konzentration, also etwa eine bewusste Einschränkung auf vor allem zwei künstlerische Medien, sehr wohltuend sein. Auch die inhaltliche Ausrichtung der Schau folgt dem Gedanken, den Mut zur Lücke zuzulassen. Ich habe mich gegen eine kunsthistorische Abhandlung entschieden und mehr persönliche und assoziative Überlegungen in den Vordergrund gestellt. Die einzelnen Themenräume sind lose an verschiedene Lebensstadien des Menschen angelehnt. Die Menschenbilder reichen von Kinder- und Jugendszenen über Selbstporträts und Menschen im Spannungsverhältnis zur Gesellschaft bis hin zu Reflexionen über Körper und Psyche, Vergänglichkeit, Tod und Erlösung. Neben diesem inhaltlichen roten Faden begegnet dem Betrachter auf formaler Ebene die ganze Bandbreite der gegenständlichen Malerei vom Fotorealismus bis zur völligen Auflösung der Figur.

Chuck Close, Self-Portrait (Detail), 2009, Foto: Günther Oberhollenzer

Chuck Close, Self-Portrait (Detail), 2009

Virgilius Moldovan, Heilende Akrobatik (Detail), 2008 Hintergrund: Reimo Wukounig, Der gequälte Zögling, 1974, Foto: Günther Oberhollenzer

Virgilius Moldovan, Heilende Akrobatik (Detail), 2008
Hintergrund: Reimo Wukounig, Der gequälte Zögling, 1974

In der Ausstellung begegnen uns vier Ichs: Zuallererst sind es die einzelnen Künstlerinnen und Künstler, die meist allein, auf sich zurückgeworfen in ihren Ateliers, die Arbeiten erschaffen haben. Als zweites ist das Sammlerpaar, Agnes und Karlheinz Essl, zu nennen. Durch ihre Leidenschaft für die Kunst haben sie mit ihrer Sammlung einen reichen Fundus für diese Ausstellung bereitgestellt. Drittens der Kurator: er wählt aus der Fülle der Sammlung nach seinen Vorstellungen die Werke aus, erstellt ein inhaltliches Konzept mit einzelnen Themen und möglichst spannenden Werkzusammenstellungen. Und viertens der Betrachter, die Betrachterin: er oder sie treten in Dialog mit den Kunstwerken, die ein Künstler geschaffen, ein Sammlerpaar gesammelt, ein Kurator ausgewählt hat. Kunst fordert zum Dialog auf. Was ist ein Kunstwerk ohne seine Betrachter, was eine Ausstellung ohne Besucher? Nur im Zusammenspiel im Wir kann die Ausstellung bestehen und gelingen.

Ich habe es diesen Sommer gewagt: Ich ließ mein Gesicht, einen Moment meines äußeren Ichs, in einem Porträt festhalten. Es war kein teures Auftragswerk, kein angesagter oder renommierter Maler. Doch unter den Straßenkünstlern ist er für mich der Beste, den ich bisher gesehen habe. Sein Name ist Bane Gavrilović, er stammt aus Serbien, und er zeichnet und malt jeden Abend am Hauptplatz der kleinen Stadt Lefkada in Griechenland. Die Porträtsitzung dauerte eine gute Stunde. Einige Zeit, um nachzudenken. Es war eine inspirierende Erfahrung. Gavrilović hat mich ganz gut getroffen, nicht alles ist stimmig, aber das Abbild doch so, dass ich mein Ich darin zu erkennen glaube.

Die Ausstellung „Sehnsucht Ich“ kann Anregung sein, sich mit dem Ich und seiner künstlerischen Sicht zu beschäftigen. Doch so wie bei einem Porträt möge sie nicht bei einer allgemeinen künstlerischen Betrachtung enden, sondern uns vielmehr auch ermutigen, über unser eigenes Ich zu reflektieren.

Die Ausstellung >SEHNSUCHT ICH< ist noch bis 16.02.2014 im Essl Museum, Klosterneuburg bei Wien zu sehen.

Alle Fotos: Günther Oberhollenzer

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