Der renommierte deutsche Kunst- und Theaterkritiker Peter Iden kam für einen Abend nach Klosterneuburg, um die Eröffnungsrede zur Ausstellung >ANSELM KIEFER – Werke aus der Sammlung Essl< zu halten. Seinen Text gibt es hier noch einmal zum Nachlesen.
Meine Damen, meine Herren – In einem bemerkenswerten Essay, auf deutsch erschienen 1999 bei Hanser in München in dem Sammelband „Der Geheimniszustand und Gedicht vom Tod“ , hat die dänische Dichterin Inger Christensen sich mit der Frage beschäftigt, ob für die Kunst eine Notwendigkeit vorstellbar sein könnte, die sich vergleichen ließe mit der Notwendigkeit, welche uns von der Natur vor Augen geführt wird. Die Blume könne nicht plötzlich innehalten und sich dazu entschließen, nicht zu blühen, das Kind nicht an seiner Geburt zweifeln und sich dafür entscheiden, in seiner warmen Mutter wohnen zu bleiben, die Erde nicht ihren Reiseweg ändern und eine Runde um den Jupiter drehen. Was aber mit der Kunst? Gibt es, fragt die Autorin, „auf dieselbe Art und Weise etwas, das Notwendigkeit, Richtung oder Zwang der Kunst heißt?“ Das meint: Wäre Kunst demnach ein natürlicher Ausdruck, eine Naturerscheinung, nur eben hervorgebracht vom Menschen, für ihn aber ebenso unerlässlich und unabweisbar „wie der Lerchengesang und der Kranichtanz für die Lerche und den Kranich?“
Für den Künstler würde das bedeuten, dass nicht er sich durch die Kunst entfaltet, sondern die Kunst sich durch ihn. Inger Christensen sieht in dieser veränderten Bewertung seiner Rolle als alleinigem Schöpfer der Kunst für den Künstler keine Einschränkung, wenn sie sagt: „Es geschieht ja wohl beides. Und in dieser einen unteilbaren Entfaltung sind sowohl Michelangelo als auch die Kunst mit dem Rätselhaften in der Notwendigkeit der Naturerscheinungen verknüpft.“
Ich zitiere Ihnen die Überlegungen der dänischen Autorin zur Unabdingbarkeit, man kann auch sagen: zum letzten Grund oder, noch nachdrücklicher: zur Wahrheit der Kunst, weil es genau diese Fragestellung ist, die Anselm Kiefer in seinem Werk seit Jahrzehnten immerzu umtreibt. Das wird spürbar angesichts der Bilder und Installationen wie in Kiefers Äußerungen über die Prozesse ihres Entstehens: Es ist eine nicht nachlassende Beunruhigung durch das tiefe Verlangen, für den Anspruch, das Kunstwerk absolut zu setzen, eine rationale Grundlegung zu finden. Warum tue ich, was ich tue? Der Sog, der von der Suche nach einer Antwort ausgeht, erfasst, über die eigene Arbeit am einzelnen Bildwerk hinaus, den gesamten Lebensbetrieb selbst, die zu Geschichte gewordene Vergangenheit zivilisatorischer und kultureller und Entwicklungen, abgelebte wie gegenwärtige politische Ideologien und Wertvorstellungen ebenso wie die natürlichen Gegebenheiten von Himmel und Erde, für die er nach Zusammenhängen forscht, die ihm so unzweifelhaft nicht sind wie sie Inger Christensen sich darstellen.

Gastreder Peter Iden vor Anselm Kiefer’s „Tönend wie des Kalbs Haut die Erde“, 2011, Foto: Peter Kuffner
Ein Indiz für die von Kiefer wie derzeit von kaum einem anderen Künstler unbedingt verlangte Dringlichkeit ist die Inanspruchnahme aller nur irgend erdenklichen Materialien als Werkstoffe seiner Bilder, von Sand, Lehm, Blei, Steinen und Eisenteilen, Blechen aller Art, aber auch Textilien und Sträuchern, bis hin zu in die raumgreifenden Installationen zitierten Zivilisationstrümmer verbrauchter Druckmaschinen und bleiern erstarrter Fragmente von Flugzeugen und Schiffen. Zugleich liefern Material aber auch die tief im Dunkel der Menschengeschichte zurückliegenden Mythen und, uns näher, die Dichter, deren Imaginationen hineingenommen werden in die Bilder als Wirklichkeiten von noch anderer Art, Zeilen aus der Lyrik Ingeborg Bachmanns, Paul Celans, Hölderlins. Die von der Bachmann in Shakespeares „Wintermärchen“ gefundene poetische Lokalisierung „Und Böhmen liegt am Meer“ wird von Kiefer zu Recht beansprucht als Behauptung und zum Beweis des Vermögens der Kunst, selber eine Realität zu stiften, von höherem Rang als die Wirklichkeit, die uns tatsächlich umgibt. Ganz im Sinne der großartig künstlerstolzen Bemerkung Bertolt Brechts, der Elisabethaner habe in „King Lear“ über die Heide Sätze geschrieben, „die kein Beleuchter erreicht und nicht die Heide selber“.
Immer bewegt durch die Insistenz auf Wahrheit, wird der universelle Duktus von Kiefers Zugriff auf nachgerade alles, was die Welt ihm als Stoff der Gestaltung bietet, bezeugt durch die Tendenz der sich immer häufiger nicht auf den schmalen, selbstgenügsamen Ausschnitt beschränkenden Bildformate zum Monumentalen. Mehrere der Bilder in der Ausstellung, die wir hier heute eröffnen – besonders deutlich wird das an dem Beispiel aus dem erst Ende des vergangenen Jahres entstandenen, jüngsten Zyklus der Berg-Panoramen -, verstehen sich selbst als das, worauf sie sich als Motiv beziehen: nämlich als Landschaften. Bilder werden zu Gegenden, es ist, als könnte man darin sich bewegen, tatsächlich darin s e i n. Anders s e i n freilich als auf den Almen und Bergeshöhen etwa Segantinis, des bedeutendsten Malers der Berge im vorigen Jahrhundert, weil unerwarteten Störungen ausgesetzt, rätselhaften, kryptischen, dem Motiv nicht ohne weiteres zuzudenkenden, irritierend fremden Elementen, die Zusammenhänge ins Bild bringen sehr weit jenseits dessen, was der erste Blick als Kontext nahelegt. Auch dieses Enigmatische, Verrätselte ist Ausdruck des Verlangens nach Totalität, Kiefer spricht von „offenen Systemen“, alles müsse in einem Kunstwerk gleichzeitig möglich sein – so wie in unserem Denken und Empfinden ein individualgeschichtlicher Bestand immer bewahrt ist und mitlaufend präsent bleibt, auch wenn wir simultan gerade auf einer anderen Lebensebene, in einer anderen Lebensschicht uns aufhalten.
Darum geht es für Kiefer: Um das Freilegen von Schichten des Vergangenen, das er zugleich versteht als Anstrengung und den einzigen Weg, Zukunft zu gewinnen. Er sagt es so: „Zurückgehend komme ich zwangsläufig in der Zukunft an.“ In welcher Zukunft: Dazu keine Auskunft. Kein schöne Aussicht. Kein Optimismus. Wir sehen die Landschaften der Bilder zerstört, zermürbt, verbraucht. Ohne den Glanz einer Utopie – manches teilt er mit seinem Lehrer Joseph Beuys – dessen Utopieglauben nicht.
Die von dem Sammler und Hausherren selbst inszenierte Ausstellung hier im Essl-Museum umfasst Arbeiten zwischen 2003 und 2011. Von den frühen Stapeln der Blei-Bücher als Metaphern für bewahrtes Wissen und die Herausforderung von dessen Vermittlung, über die schwarz verbrannte Erde der Hommage an Celan, weiter den beiden, seltsam einander nahen Bildern „Claudia Quinta“, Erinnerung an eine Vestalin, die zum Beweis ihrer Unschuld mit den eigenen Haaren ein Schiff aus dem Tiber zog, und „Ich bin der ich bin“, Selbstzeugnis in dornigem Gestrüpp, bis hin zu dem zerfallenden Bau von „The Fertile Crescent“, die Ruine als Voraussetzung für das Wachsen von vielleicht etwas Neuem, und den wüsten Landschaften aus dem vergangenen Jahr.
Meine Damen und Herren, in einer Strophe des Chors der „Antigone“ des Sophokles, aufgeführt in Athen um die Mitte des 5. Jahrhunderts vor Christus, lese ich:
„Ungeheuer ist viel, und nichts / ungeheurer als der Mensch. / Der nämlich, über das graue Meer / im stürmenden Süd fährt er dahin, / andringend unter rings / umrauschenden Wogen. Die Erde auch, / der Göttlichen höchste, die nimmer vergeht / und nimmer ermüdet, schöpfet er aus / und wühlt, die Pflugschar pressend, Jahr / um Jahr mit Rössern und Mäulern. . . Allbewandert er, auf kein Künftiges / geht unbewandert er zu“. – Erzählung vom Menschen in der Welt.
In den Werken Anselm Kiefers ist sie enthalten.
Peter Iden, 2.2.2012 im Essl Museum/Klosterneuburg anlässlich der Eröffnung der Ausstellung >ANSELM KIEFER – Werke aus der Sammlung Essl<, zu sehen noch bis 29.05.2012